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am nächsten gefährdete Stelle war das Bein, in dem eine Ader
verlief, die sie, wenn sie zerrissen wurde, in zehn Minuten
verbluten lassen würde. Das behaupteten zumindest die Jäger,
die damit ihre hohen Stiefel rechtfertigten.
Der Wolf öffnete das Maul und knurrte. Ein dumpfes,
gefährliches Geräusch, das von jemandem kam, der nicht nur
drohte, sondern angriff. Sie starrte ihm in die Augen, obwohl ihr
das Herz bis zum Hals klopfte, denn jetzt zeigte er seine Zähne.
Es war alles nur eine Frage der Zeit. Entweder griff er an, oder
er ging, doch Chantal wußte, daß er angreifen würde. Sie
schaute um sich, suchte nach einem lockeren Stein, über den
sie stolpern könnte, sah aber keinen. Beschloß dann auf das
Tier zuzurennen. Sie würde zwar gebissen werden, aber
dennoch zum Baum laufen, während er sich in ihr Bein
verbissen hatte. Sie mußte den Schmerz ausblenden.
Sie dachte an das Gold.
Sie dachte, daß sie bald wieder zurückkommen würde, um es
zu holen. Sie nährte alle nur möglichen Hoffnungen, alles was
ihr Kraft gab, zu ertragen, daß ihr Fleisch von den scharfen
Zähnen zerfetzt, der Knochen freigelegt würde und sie
möglicherweise stürzte und am Hals angegriffen werden würde.
Kurz vor dem Losrennen sah sie wie im Film in der Ferne
jemanden hinter dem Wolf auftauchen.
Das Tier erschnupperte die Anwesenheit eines anderen,
wandte aber nicht den Kopf, und Chantal starrte ihn weiter an.
Es war so, als verhinderte einzig die Kraft der Blicke den
Angriff.
Wenn jemand gekommen war, hatten sich ihre
Überlebenschancen erhöht - auch wenn sie das letztlich ihren
Goldbarren kosten würde.
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Die Gestalt hinter dem Wolf duckte sich schweigend und ging
dann nach links. Chantal wußte, daß dort ein anderer Baum
stand, der leicht zu erklettern war. Und in diesem Augenblick
fiel ein Stein in der Nähe des Tieres nieder. Flugs wandte sich
der Wolf um und stürzte in die Richtung, aus der der Stein
gekommen war. »Laufen Sie weg!« schrie der Fremde. Sie lief
zu ihrem einzigen Zufluchtsort, während der Mann mit
ungewöhnlicher Geschicklichkeit auf den anderen Baum
kletterte. Als der verfluchte Wolf bei ihm ankam, war er bereits
in Sicherheit. Der Wolf begann zu knurren und zu springen,
manchmal gelang es ihm, den Stamm etwas hinaufzuklettern,
aber er rutschte immer wieder ab. »Reißen Sie ein paar Zweige
ab!« schrie Chantal. Doch der Fremde verharrte wie in Trance.
Sie schrie weiter, zweimal, dreimal, ließ nicht locker, bis er
endlich begriff. Er begann Zweige abzureißen und sie auf das
Tier hinunterzuwerfen.
»Nicht so! Reißen Sie die Zweige ab, bündeln Sie sie, und
stecken Sie sie an!« rief sie verzweifelt. »Ich selbst habe kein
Feuerzeug, aber tun Sie einfach, was ich Ihnen sage!«
Der Fremde bündelte die Zweige und brauchte eine Ewigkeit,
bis er sie angezündet hatte. Alles war klitschnaß vom Unwetter
des Vortages, und die Sonne schien in dieser Jahreszeit nicht
bis zu dem Baum.
»Jetzt zeigen Sie, daß Sie ein Mann sind«, rief sie. »Steigen
Sie vom Baum, halten Sie die Fackel ruhig und richten Sie sie
auf den Wolf.«
Der Fremde war wie gelähmt.
»Nun machen Sie schon«, rief sie gebieterisch, und der Mann
spürte die Autorität in ihrer Stimme, eine Autorität, die von dem
Schrecken herrührte und einer blitzschnellen
Reaktionsfähigkeit, die Angst und Schmerz erst mal
ausblendete. Die Fackel in der Hand, kletterte er endlich vom
Baum, kümmerte sich nicht um die Funken, die sein Gesicht
versengten. Er sah die Zähne des Tieres und den Schaum um
dessen Maul. Seine Angst wuchs, aber er mußte etwas tun -
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etwas, was er hätte tun müssen, als seine Frau entführt, seine
Töchter getötet worden waren.
»Lassen Sie das Tier nicht aus den Augen!« hörte er die junge
Frau sagen.
Er gehorchte. Mit jedem Augenblick wurde alles einfacher, er
sah nicht mehr auf die Waffen des Feindes, sondern den Feind
in sich. Sie waren gleich stark, gleich fähig, den ändern in Angst
und Schrecken zu versetzen.
Er stellte die Füße auf den Boden. Der Wolf wich vor dem
Feuer zurück: Er knurrte und sprang immer noch herum, aber
er kam nicht näher.
»Greifen Sie ihn an!«
Er ging auf das Tier zu, das noch lauter knurrte, die Zähne
zeigte, aber noch weiter zurückwich.
»Verfolgen Sie ihn! Bringen Sie ihn von hier weg!«
Das Feuer brannte jetzt noch stärker, und der Fremde
verbrannte sich fast die Hände. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Ohne weiter nachzudenken, rannte er, den Blick starr auf die
blauen bösen Augen des Tieres gerichtet, auf den Wolf zu. Der
hörte auf zu knurren und zu springen, machte einen Satz und
war im Wald verschwunden.
Wie der Blitz war Chantal vom Baum herunter, klaubte flink ein
paar Zweige vom Boden auf und machte sich auch eine Fackel.
»Schnell weg, kommen Sie!«
»Wohin?«
Wohin? Nach Bescos, wo alle sehen würden, wie sie
zusammen kamen? In eine weitere Falle, in der Feuer nichts
ausrichten konnte? Sie ließ sich auf den Boden fallen, der
Rücken schmerzte höllisch, ihr Herz klopfte wie wild.
»Machen Sie ein Feuer!« wies sie den Fremden an. »Lassen
Sie mich nachdenken.«
Sie versuchte sich zu bewegen und stieß einen Schrei aus. Ihr
war, als hätte man ihr ein Messer zwischen die Schulterblätter
gerammt. Der Fremde sammelte Laub und Äste zusammen und
machte ein Feuer. Bei jeder Bewegung wand sich Chantal vor
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Schmerzen und wimmerte leise. Sie mußte sich ernsthaft
verletzt haben, als sie auf den Baum geklettert war.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben sich nichts
gebrochen«, sagte der Fremde, als er ihr schmerzverzerrtes
Gesicht sah. »Das kenne ich. Wenn der Körper bis ins letzte
angespannt ist, ziehen sich die Muskeln zusammen und spielen
uns diesen Streich. Soll ich Sie massieren?«
»Rühren Sie mich gefälligst nicht an! Und kommen Sie bloß
nicht näher! Schweigen Sie einfach!«
Schmerz, Angst, Scham. Ganz bestimmt hatte er hinter ihr
gestanden, als sie das Gold ausgegraben hatte. Er mußte
gewußt haben, daß Chantal ihn diesmal bestehlen wollte -sein
Dämon kannte sich schließlich aus mit der Seele der
Menschen.
So wie er auch wußte, daß in diesem Augenblick der ganze Ort
darüber nachdachte, einen Mord zu begehen. Wie sie wußte,
daß sie nichts tun würden, weil sie Angst hatten. Doch allein die
Absicht genügte als Antwort auf seine Frage: Ja, der Mensch ist
im Grund seines Wesens schlecht. Ebenso wie sie wußte, daß
sie fliehen würde: Die gestrige Wette galt nicht mehr, er konnte
mit seinem unversehrten Schatz und der Bestätigung seiner
Vermutungen dahin zurückkehren, woher er gekommen war
(woher eigentlich?).
Sie versuchte sich in eine einigermaßen erträgliche Position
aufzusetzen, aber es gab keine. Sie durfte sich einfach nicht
bewegen. Das Feuer würde den Wolf fernhalten, würde aber
bald die Hirten auf sie aufmerksam machen, die in der Gegend [ Pobierz całość w formacie PDF ]
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